Ich bin nicht gut im Mich-Beschweren. Ich hasse es. Das ist fast schon pathologisch. Und über die Jahre hab ich mich damit abgefunden, dass man mit mir als Kunden schon ein bisschen machen kann, was man will. Als wäre Konsument zu sein eine von mir angebotene Dienstleistung, die ich zur Zufriedenheit aller erbringen will. Ein samstagabendlicher Besuch in der sehr urigen “Gastwirtschaft Wratschko” hat mir jetzt dabei geholfen, diese etwas unpraktische Eigenheit abzulegen.
Das Wratschko ist ein Lokal in der Wiener Neustiftgasse. Ist gut gelegen, schaut von außen halbwegs gemütlich aus und brüstet sich mit frisch zubereiteten Speisen aus qualitativ hochwertigen Zutaten. Wiener Küche, Hausmannskost, vegetarisches Essen, keine Konservierungsstoffe, keine Fertiggerichte, worauf man halt alles so schaut, wenn man sich in der Wiener Restaurantszene gut positionieren will.
Samstag abend, 20 Uhr 30, wir betreten das Lokal und landen – weil vorne alles voll ist – im etwas gammeligen Hinterzimmer. Farbe blättert von den Wänden, aber noch sind wir bereit, das unter “Charme” abzulegen. Getränkebestellung: 20 Uhr 40. Essensbestellung: 20 Uhr 50. Ich will haben: Hühnerfilet mit Ingwersoße und Risibisi. Das Unheil nimmt seinen Lauf.
21 Uhr 20: Ein bisschen Farbe bröckelt von der Wand. Ich wisch die Bröckerl von der Sitzbank auf den Boden.
21 Uhr 50: Die Kellnerin war seit 60 Minuten nicht mehr gesehen, ich gehe in den vorderen Gastraum, um nachzusehen, ob es ihr eh gut geht. Nebenbei erkundige ich mich nach unserer Bestellung. Sie begleitet mich zur Durchreiche zur Küche. “Du, wann ist das fertig?” – “Gleich. Sofort.” Aha. Ich sag, wir würden gern noch was zu trinken bestellen inzwischen. Sie sagt, sie kommt gleich.
21 Uhr 55: Sie kommt tatsächlich, genervt keuchend, aber mit Block und Kugelschreiber, nimmt die Getränke auf und versichert, dass das Essen wirklich gleich kommt.
22 Uhr 00: Yeah. Zwei Teller finden ihren Weg aus der Küche auf unseren Tisch.
22 Uhr 02: Ich fasse mir ein Herz und stehe kurz darauf mit meinem Hühnerfilet im Sushi-Style wieder bei der Durchreiche und frag den Koch, ob das sein Ernst sei. “Naja, ich hab gedacht, du hast es eilig”, meint er. “Und da krieg ich dann ein rohes Huhn?” Es wäre jetzt wirklich nicht ganz roh, meint er. “Es ist aber auch wirklich nicht durch”, sag ich. Er will wissen, ob er es jetzt reparieren soll oder ob ich mich jetzt nur beschweren will. Ich sag: “Ich will das jedenfalls nicht essen”. Er nimmt den Teller und verabschiedet sich mit einem herzhaften “Okay, Tschüss!”
22 Uhr 05: Wir hören, dass der Koch der Kellnerin die Geschichte vom zurückgebrachten Huhn erzählt. Ich nehm an, sie würde sich ein bisschen entschuldigen kommen und mich vielleicht fragen, ob ich irgendwas anderes will. Immerhin sitze ich seit eineinhalb Stunden hungrig in ihrem Hinterzimmer. Aber sie beschließt offenbar, zur Sicherheit ab jetzt gar nicht mehr an unseren Tisch zu kommen.
22 Uhr 20: Wir gehen zum Zahlen nach vorne an den Tresen. “Alles zusammen?” will sie wissen. “Alles außer dem Huhn”, sage ich. Ah ja, von der Geschichte hätte sie eh schon gehört. Keine Spur einer Entschuldigung. Ich bin zu baff, um darauf irgendwas zu sagen. Und ich will mir den Sieg über meine Reklamations-Phobie auch nicht durch ein unüberlegtes letztes Wort kaputt machen.
Beim tollen Koch-Kellnerin-Gespann möchte ich mich aber an dieser Stelle doch noch für die Therapie-Doppelstunde bedanken. Leichter hätten sie es mir nicht machen können.
Wow! Das war ja echt eine reife Leistung an Unverfrorenheit. Danke – Wratschko – werd ich mir merken.
Ist schon krass wie weit so manche Firmeninhaber an der Kundenfreundlichkeitsphilosophie vorbeiwirtschaften. Bei Euch scheint es nicht besser zu sein als in der BRD.
Da bekommt man ja richtig Hunger! :-/
Nach meinem gestrigen Erlebnis in der Pizzeria Peppino in der Donaucity muss ich sagen: du bist noch glimpflich davongekommen.
Nachdem ich dort nach meinem zweiten Bissen Glasscherben im Essen gefunden hatte und selbiges natürlich zurückgehen ließ, meinte die Kellnerin bar jeder Entschuldigung bloß “Kein Problem, sie müssen das Essen nicht bezahlen. Aber das Obi g’spritzt schon.” Auf meinen Einwand, dass es ja wohl kaum an ihr liegt zu entscheiden, ob es ein Problem ist im Zweifelsfall mit Magenblutungen im Spital zu landen und ich sicher nichts zahlen werde bei dieser Behandlung, schrie mich der zweite Kellner an, ich solle das Maul halten und überhaupt “di kenn i, du host de Scherben selber mitbracht, des mochst du da überall!” und drohte mir schlußendlich noch Prügel an.
Siehste – es KANN schlimmer kommen! ^^
ach du scheiße… und ich nehm mal an, der kellner kennt dich in wirklichkeit nicht, und du hast auch nicht immer ein sackerl glasscherben mit das du dir übers essen streust? weil wenn der das durchs lokal brüllt, würd ich ja auch gleich mal unterm tisch mit dem strafgesetzbuch winken. üble nachrede und verleumdung könnte man da zum beispiel in betracht ziehen.
Ne doch, Glasscherben ins Essen streuen ist mein heimliches Feiertagsritual. Wer macht das nicht? -.-
Ja, über eine Anzeige habe ich auch nachgedacht und auch schon die Polizei rufen lassen. Dann ist mir die Warterei zu blöd und meine Nerven zu schade für so einen Zirkus gewesen. Wie war das bei der Westenthaler Affaire? “Arschloch” ist milieubedingt normal. Viel mehr hätte in dem Saftladen auch nicht rausgeschaut.
Ja, das Wratschko. Ist mir dort auch schon passiert. Ich war nicht glücklich mit dem Pfeffersteak. Der Koch hat es sicherheitshalber entsorgt. Zahlen hätte ich dann schon für die nicht wieder gebrachte Speise sollen. Da ich mit Übernachtungsgästen bei mir unterwegs war und die mich unbedingt einladen wollten, aber nicht auf etwas, was ich nicht konsumiert hatte, habe ich seither Lokalverbot. Halte mich auch dran ;-)
Ob man den Zustand des Lokals als “urig” oder als “sanierungsbedürftig” ansieht, liegt im Auge des Betrachters. Aber nach Jahren der Abstinenz habe ich nun innerhalb von einem Monat zwei Mal dort gegessen und kann berichten: wenn nichts los ist, läuft alles ausgezeichnet (1x Koch = Chef plus 1x Bedienung ergibt 2 Leute, da gibt’s halt Einschränkungen). Die Leber war wunderbar, das Erdäpfelpürree mit appetitlichen Stückchen und sehr sahnig im Geschmack, das gebratene Gemüse knackig und das Kalbsbries mit Avocado einfach legendär.
Derzeit eines unserer Lieblingswirtshäuser.